Spuren sichern, Schweigen brechen

Dienstag, 14. Oktober 2025

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Wer verstehen will, wohin wir steuern, muss wissen, woher wir kommen. Ernst Guggisberg kennt sich aus mit den Spuren der Vergangenheit – und mit dem, was wir gern übersehen. Als Staatsarchivar des Kantons Zug spricht der Rotarier über das Schweigen der Akten, die Verantwortung der Erinnerung und die Tücken der digitalen Welt.

Herr Guggisberg, was fasziniert Sie an Geschichte? Und warum haben Sie sich ausgerechnet für das Archivwesen entschieden?

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit übte schon in der Primarschule auf mich Faszination aus, insbesondere hat mich das bauliche Erbe der ägyptischen Hochkultur begeistert. Dies führte nicht zuletzt dazu, dass ich an der Universität Basel neben Geschichte im Hauptfach auch klassische Archäologie und Ägyptologie studierte. Geschichte als wissenschaftliche Disziplin gibt den Historikern eine kritische Sichtweise auf schriftliche und mündliche Zeugnisse mit, schärft analytische Fähigkeiten und befähigt sie nicht zuletzt auch die Ergebnisse für Interessierte zu interpretieren und darzustellen.

Mich persönlich begeistert Geschichte gerade dann, wenn sie es vermag, die grossen Entwicklungsstränge im Kleinen nachzuzeichnen. Eine meiner ersten akademischen Qualifikationsarbeiten führte mich zum Aargauer Fabrikherrn Johann Caspar Brunner (1813-1886), der zu den sogenannt protestantischen Unternehmern zählte und mit seiner dezidierten Haltung gegen Kinderarbeit das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 mitgestaltete: Anhand seiner Vita wurde Industrie-, Sozial- und Rechtsgeschichte zum Leben erweckt. In der Forschung war Brunner bis dahin ein unbeschriebenes Blatt, so dass mich die Quellenrecherche in mehrere Archive führte.

In Archiven werden die authentischen Zeitzeugnisse unserer Vorfahren aufbewahrt. Mittels dieser Quellen kommen wir dem Pulsschlag, dem Wesen und dem Gedankengut vorangehender Generationen näher. Dass diese Spuren heute noch in diesen Institutionen gelesen werden können, ist das kollektive Verdienst unserer Gesellschaft, die sich für die Erhaltung und Sicherung ihres kulturellen Erbes einsetzt. 

Die Frage, was denn bei einer gesteuerten archivischen Überlieferung aufbewahrt werden soll und was nicht, ist eines der Kernelemente unserer Fachdisziplin und letztlich auch unsere Verantwortung. In meinem beruflichen Werdegang durfte ich alle Kernprozesse des Archivwesens kennenlernen, von der Aktenreinigung über die Erschliessung, Benutzung und Vermittlung bis hin zur Beantwortung von Akteneinsichtsgesuchen. Kurzum: ein für mich absolut spannendes und sinnhaftes Tätigkeitsgebiet!

Archive gelten als still, sachlich, nüchtern. Sie hingegen sprechen von «Werkstätten der Erinnerung». Was meinen Sie damit?

Aus meiner Sicht orte ich hier keinen Wiederspruch, sondern – im besten Fall – eine wertschöpfende Konsequenz! Unsere öffentlichen Archive sind Orte, wo die heutige Gesellschaft u.a. mit Verwaltungsentscheiden in Kontakt treten kann. Anhand von authentischen, zuverlässigen, integren und benutzbaren Informationen tragen diese Stellen zur historischen Bewusstseinsbildung, zur Rechtssicherheit und zur Nachvollziehbarkeit staatlichen Handelns bei. Archivarinnen und Archivare bewirken mit ihrer Arbeit nicht nur die Sicherung dieser Unterlagen, sondern auch deren Sichtbarmachung – sei es in Archivkatalogen, analogen oder digitalen Lesesälen oder auch mittels Veranstaltungen. Zu «Werkstätten der Erinnerung» werden Archive aber genau dann, wenn das kollektive Erbe der Bevölkerung zugänglich gemacht wird und wenn Forscher ihre aus Quellenarbeit basierenden Ergebnisse publizieren: Die «stillen» Quellen sprechen nicht aus sich heraus, hier kommen die Nutzer unserer Institutionen zum Zuge!

Sie waren an der Aufarbeitung der administrativen Versorgungen beteiligt. Welche Rolle spielen Archive, wenn es darum geht, Unrecht sichtbar zu machen?

In der Schweiz konnten bis 1981, bis zur Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Schweiz, sogenannt «arbeitsscheue», «liederliche» oder «trunksüchtige» Menschen rein auf dem Verwaltungsweg – ohne Gerichtsentscheid und ohne Beschwerde-/Rekursmöglichkeit – in Zwangserziehungs-, Straf- oder Korrektionsanstalten eingewiesen werden. Diese staatliche Willkür war auch nach der administrativen Versorgung für die Betroffenen durch Stigmatisierungen wirkungsmächtig. Viele der verschriftlichten Entscheide werden in den öffentlichen Archiven aufbewahrt und sind unverrückbares Zeugnis dieses erlittenen Unrechts. Für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geben die Dokumente einerseits Orientierungswissen und andererseits können sie als konkretes Beweismittel im Rahmen des vom Parlament beschlossenen Solidaritätsbeitrags vorgebracht werden. Für ehemalige Pflege- und Heimkinder sind diese Unterlagen oftmals die einzige Möglichkeit, Erinnerungslücken in der Kindheit zu schliessen, Familienkonstellationen zu rekonstruieren und damit höchst individuelle Fragen zu beantworten.

Die Rolle der Archive besteht in diesem Zusammenhang in der Sicherung und Zugänglichmachung von Unterlagen seitens der öffentlich-rechtlichen oder der privaten Fürsorge, in der Begleitung und Unterstützung der Betroffenen bei ihrer Aktensuche, im direkten Austausch mit den Betroffenen sowie in der Vermittlung an die Opferhilfestellen der Kantone. Hier wird sichtbar, dass Archive nicht «nur» Ausgangspunkt für die übergeordneten Entwicklungsstränge unserer Gesellschaft bilden können, sondern oftmals auch für die höchst individuellen Bedürfnisse unserer Mitbürger einen konkreten Mehrwert bieten.

Was bedeutet «Verantwortung» im Umgang mit Vergangenheit, gerade bei heiklen Themen?

Zuhören und nicht wegsehen. Gerade die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zeigt, dass kritische Stimmen von Juristen und Verfassungsrechtlern, Sozialkritikern wie Carl Albert Loosli (1877-1959) oder Paul Senn (1901-1953) und den betroffenen Personen selbst zu lange kein Gehör geschenkt wurde. Oftmals gewärtigten die an die Öffentlichkeit tretenden Betroffenen harschen Gegenwind und (weitere) Diffamierungen. Starke und adäquat mit Ressourcen ausgestattete Archive, die ihren Kernauftrag vollumfänglich erfüllen und die Quellenbestände sichern und bereitstellen können, unabhängige Forscher und eine an einer Aufklärung interessierte Öffentlichkeit schaffen die Voraussetzungen für eine ernsthafte historische Auseinandersetzung mit der («heiklen») Vergangenheit, die für unsere gegenwärtige Gesellschaft mit ihren Herausforderungen Lösungsansätze aufzuzeigen vermag.

Wie verändert die Digitalisierung Ihre Arbeit – und unsere Erinnerungskultur?

Die Digitalisierung bietet für die öffentlichen Verwaltungen und die Archive grosse Vorteile: Wenn sie konsequent umgesetzt ist, beendet sie das hybride Zeitalter von gleichzeitigem «Papier und Files», das für unsere Institutionen eine grosse Herausforderung darstellt. Elektronische Informationen sind noch besser recherchierbar als analoge und sie gelangen bereits mit beschreibenden Daten kontextualisiert ins digitale Langzeitarchiv. 

Die schweizerische Archivwelt schuf bereits vor zwanzig Jahren die Koordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen (KOST), die seither wesentliche Impulse bei der digitalen Überlieferungsbildung aussendet. Aber ja, im Gegensatz zu unseren Pergamenten aus dem Mittelalter fehlt hier die jahrhundertelange Erfahrung mit den digitalen Medien.

Hinsichtlich der Erinnerungskultur bin ich etwas im Zwiespalt – so einfach sich die digitalen und bildmächtigen Quellen in den virtuellen Lesesälen verbreiten lassen und so sichtbar sie sind, so zurückhaltender ist teilweise der Umgang mit den rein physisch vorliegenden Aktenbeständen, die unter keinen Umständen zu blinden Flecken verkommen dürfen. Hier sind die Archive und die Forschungsinstitutionen dazu aufgerufen, aus der Gesamtheit der Information zu schöpfen.

Wenn Sie in hundert Jahren ein junger Historiker wären, was würden Sie über unsere Gegenwart herausfinden wollen?

Intuitiv, dass ich dann in einer konfliktfreien Zeit auf die letzten Kriege der Menschheit, und wie wir diese beendeten, zurückblicken würde… Mich würde als Sozialhistoriker vermutlich interessieren, welche Lösungen wir hinsichtlich der Einkommensschere, der Inklusion von Randgruppen, der Nutzung unserer Ressourcen oder der demographischen Entwicklung entwickelten. Und dazu würde ich selbstverständlich die öffentlichen Archive mit ihrem Wissensschatz durchforsten.

Was können Institutionen wie Rotary von der Archivkultur lernen?

Ich bin überzeugt, dass wir dieselben Werte hochhalten: Rotary lebt meines Erachtens vom persönlichen Austausch seiner Mitglieder, deren Engagement für das Gemeinwohl und dem Bestreben, sich als Organisation stetig weiterzuentwickeln. Hier sehe ich viele Anknüpfungspunkte zur in einem Verein organisierten schweizerischen Archivgemeinschaft, dem multidisziplinären Ausbildungsprogramm in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft oder auch dem Ethik-Kodex unseres Berufstands. Auch wir sind als Archive lokal fest verankert, richten den Blick aber auch über die Grenzen hinaus. Mich würde es persönlich sehr freuen, wenn die rotarische und die archivische Gemeinschaft näher zueinander rücken würde – beispielsweise mittels Archivführungen im rotarischen Programmjahr?

Herr Guggisberg, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch.

 

Ernst Guggisberg, geboren 1982, ist promovierter Historiker und seit 2019 Staatsarchivar des Kantons Zug. Zuvor war er in den Staatsarchiven Aargau und Thurgau tätig. Berufliche Stationen führten den Rotarier (Mitglied im RC Zug) auch in deutsche Archive und in die eidgenössische unabhängige Expertenkommission «administrative Versorgungen». Guggisberg gilt als fachlich versierter Archivar mit einem besonderen Interesse für ethische Fragen der Erinnerungskultur und der digitalen Archivierung. Seit 2024 ist er Präsident der Schweizerischen Archivdirektorinnen- und Archivdirektorenkonferenz.

Rot. Ernst Guggisberg